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„Die Achtung vor uns selbst ist alles, was bleibt“

Hoffnung auf der Straße - Ein offenes Gespräch mit Sarah, die mehrere Monate lang obdachlos war

Themenspecial Hoffnung – Ein offenes Gespräch mit Sarah, die mehrere Monate lang obdachlos war

Sarahs* Geschichte liest sich wie ein Drehbuch für eine Schicksals-Doku. Es geht um eine Frau, die viele Einbrüche erleben musste, deren Leben viele Wendungen genommen hat. Aber Sarah hat dennoch nie die Hoffnung verloren. Die Hoffnung darauf, dass das Leben es irgendwann wieder einmal besser mit ihr meinen wird. Es stellen sich Fragen danach, was bleibt, wenn alle Stützen im Leben wegfallen und es keinen anderen Ausweg als ein Leben auf der Straße gibt. Als Obdachlose. Wo gibt es Hoffnung in einer Lebenslage, die für die meisten Menschen unvorstellbar ist? In einer Lage, in der auf den ersten Blick kein Platz mehr für Hoffnung ist.

Zum Beginn des Gesprächs lächelt Sarah noch. „Zurzeit bin ich sehr glücklich, kann nach vorne schauen und mein Leben genießen“, sagt sie. Das war nicht immer so. Im Jahr 1995, Sarah war gerade erst 18 Jahre alt, habe ihr Leben eine Wendung genommen, als sie ihren späteren Mann Olaf* kennengelernt habe. „Wir sind schnell zusammenzogen, vielleicht zu schnell, und kurz darauf wurde ich bereits schwanger mit unserer Tochter. Es war nicht leicht, uns etwas aufzubauen, wir haben beide vom Sozialamt gelebt“, blickt Sarah zurück. Nachdem ihre Tochter auf der Welt war, habe es nicht lange gedauert und ihr gemeinsamer Sohn habe sich angekündigt. „Zwei kleine Kinder mit gerade Anfang 20, ich hatte keine Ausbildung, die Situation war von vorneherein nicht einfach. Doch ich wollte meinen Kindern ein stabiles Umfeld geben, was nach außen hin auch gut funktioniert hat. In mir drin sah es allerdings ganz anders aus.“

“Eine Flasche Rotwein am Abend war mein bester Freund geworden. Sobald die Kinder im Bett waren, habe ich heimlich getrunken. Ich konnte ohne Alkohol und Tabletten einfach nicht mehr zur Ruhe finden.“

Allein in der Großstadt

Ein Umzug nach München sollte der jungen Familie helfen. In der Großstadt erhofften sie sich, einfacher Arbeit zu finden. „Aber der Kontrast von Paderborn zu München war einfach zu krass. Die Stadt war riesig, die Mieten doppelt so hoch“, verdeutlicht die heute 42-Jährige. Sie verlor mehr und mehr ihr Selbstvertrauen. „Ich war sehr darum bemüht, mein Gesicht zu wahren und meine Kinder nicht spüren zu lassen, wie es in mir drin aussah. Aber die Realität war, dass eine Flasche Rotwein am Abend mein bester Freund geworden ist. Sobald die Kinder im Bett waren, habe ich heimlich getrunken. Irgendwann kamen auch Medikamente hinzu. Ich konnte ohne Alkohol und Tabletten einfach nicht mehr zur Ruhe finden.“

Was Sarah zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass ihr Mann hinter ihrem Rücken immer häufiger ihren Namen missbraucht hat. Handys, Kleidung oder Elektrogeräte habe er auf ihren Namen bestellt. „Zuerst informierte er mich noch darüber, aber in der Zeit, als das Internet immer bedeutender wurde, in der Dinge mit nur einem Klick bestellt werden konnten, war es ein Leichtes für ihn und mein Schuldenberg wuchs“, beschreibt Sarah. Ab ihrem 25. Lebensjahr stand regelmäßig der Gerichtsvollzieher vor der Tür ihrer Familie. Sarah habe überhaupt nicht gewusst, was das Internet sei, wie es funktioniere oder wie man sich darin bewegt. Olaf habe jeglichen technischen Fortschritt von ihr ferngehalten, verdeutlicht Sarah. „Funktionieren sollte ich, mich um die Kinder kümmern und den Haushalt machen. Für ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben war ich nicht vorbereitet. Mir fehlten die grundlegendsten Kenntnisse.“

Erstes Handy mit 39

Zwanzig Jahre lang sei dieses „Psycho-Spiel“, wie Sarah es nennt, so weitergegangen. Bis die Ereignisse in Jahr 2016 ihr Leben vollständig auf den Kopf stellen sollten. Sarah hatte vom Arbeitsamt München eine Maßnahme für psychisch schwache Menschen vermittelt bekommen. Um für die Ämter von nun an persönlich erreichbar zu sein, bekam sie auch ihr allererstes Handy – mit 39 Jahren. „Es eröffnete sich mir eine gänzlich neue Welt. Ich habe die digitale Welt nur so aufgesogen. Per Facebook fand ich alte Freunde und Familienmitglieder, mit denen ich stundenlang schrieb. Und auch meine Jugendliebe Stefan*…“, sagt Sarah nachdenklich. Plötzlich seien alle Gefühle von damals wieder da gewesen. „Mit Stefan war es, als seien wir all die Jahre nie getrennt gewesen. Er machte mir Hoffnung auf ein anderes Leben. Gab mir die Kraft, weiter durchzuhalten. Der Traum von einer Zukunft mit ihm hat mich kämpfen lassen.“

Haftbefehl wegen Betrugs

Im November 2016 stürmte eines Nachts die Polizei Sarahs Wohnung. Vier Beamte in voller Montur verlangten, den Aufenthaltsort ihres Mannes zu erfahren. Es läge ein Haftbefehl vor. „Ich war vollkommen schockiert“, sagt Sarah. Sie habe zwar gewusst, dass Olaf kein unbeschriebenes Blatt und polizeibekannt sei, doch mit dieser Dimension hätte sie nicht gerechnet. Gleichzeitig habe sie ein Gefühl der Erleichterung verspürt – in ihr keimte die Hoffnung auf, „dass der ganze Spuk nun endlich ein Ende hat.“

Ihr Mann Olaf wurde wegen Betrugs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sarah blickt zurück: „Da stand ich nun. Mein Mann saß hinter Gittern, ich hatte die Verantwortung für zwei Kinder, ich selbst hatte keine Ahnung davon, wie das Leben funktioniert.“ Also erstellte sie gemeinsam mit einer Freundin einen Schlachtplan. Wie bekomme ich Hartz IV, wie beantrage ich Kindergeld und komme an eine Sozialwohnung? „Innerhalb kürzester Zeit wusste ich genau, wo ich welchen Antrag bekomme, welche Bedingungen erfüllt sein müssen und welche Fristen es gibt. Einmal rief mich sogar eine Beamtin aus dem Wohnungsamt an, weil sie meinen Rat brauchte“, lacht Sarah. „Ich habe mich so lebendig gefühlt wie nie. Außerdem war ich wieder fest mit Stefan zusammen. Wir waren unzertrennlich.“ Bei diesen Worten strahlen Sarahs Augen. Die Gedanken an ihren Freund, die Gewissheit, dass er immer für sie da ist, sei in der gesamten Zeit ihre größte Stütze gewesen. „Stefan war meine Hoffnung.“

Leben auf der Straße unausweichlich

Irgendwann wurde Sarahs Sehnsucht nach Stefan zu groß, wohnte er doch immer noch in Paderborn und sie in München. Die Besuche übers Wochenende hätten irgendwann nicht mehr ausgereicht, sie wollte ganz zu ihm. „Dieser Mann, der mir so viel Lebensmut gegeben hat, mir immer zur Seite stand, der meinen Kindern mehr Vater war als ihr leiblicher in all den Jahren zuvor, auch er brauchte mich.“ Irgendwann sei sie regelrecht nach Paderborn geflohen. „Wie jeder von uns hatte auch Stefan sein Päckchen zu tragen“, sagt sie nachdenklich. Er – über Jahrzehnte suchtkrank und mittlerweile clean – befand sich in psychologischer Behandlung. Die Suchtkrankheit hatte ihre Spuren hinterlassen.

Da für beide in der Einrichtung, in der Stefan behandelt wurde, kein Platz war und Sarah keine Wohnung in Paderborn besaß, war das Unausweichliche nicht weit – beide schlugen sich auf der Straße durch. „Aber wir hatten uns. Stefan war an meiner Seite, das war für mich das Wichtigste“, bekräftigt Sarah.

„Auch wenn uns alles im Leben genommen wird, Wohnung, Geld, unser Hab und Gut, wir dürfen niemals die Achtung vor uns selbst verlieren. Das ist am Ende das Einzige, was bleibt. Niemand kann sie uns nehmen.“

Hilfe beim SKM

Nur eines wollten beide auf keinen Fall – obdachlos aussehen. „Wir versteckten unsere Koffer in Schließfächern, wuschen uns auf Bahnhofstoiletten, nutzen jede Möglichkeit, um kostenlose Pflegeprodukte zu verwenden.“ Sarah kaufte sich Make-up, um sich zu schminken. Denn egal, wie ausweglos die Situation auch sei, eines habe Sarah nie verloren: die Achtung vor sich selbst. Sie sagt: „Auch wenn uns alles im Leben genommen wird, Wohnung, Geld, unser Hab und Gut, wir dürfen niemals die Achtung vor uns selbst verlieren. Das ist am Ende das Einzige, was bleibt. Niemand kann sie uns nehmen.“

Trotzdem war es nur eine Frage der Zeit, bis den beiden das ersparte Geld ausging. Die Nächte wurden kälter und härter. In zwei bis drei Nächten, erzählt Sarah, sei sie überzeugt gewesen, diese nicht zu überleben. Da kam Stefan die Idee, beim SKM, dem Katholischen Verein für soziale Dienste in Paderborn, um Hilfe zu bitten. Stefan sei früher schon einmal dort gewesen, als es ihm nicht gut ging und er sagte, dort würde man sie unterstützen. Er behielt Recht. Sie bekamen warme Mahlzeiten, die Möglichkeit zu duschen, im Warmen zu übernachten. „Das, was uns aber die meiste Kraft gegeben hat, waren die Menschen beim SKM. Sie haben uns gemocht und respektiert, ohne dass wir irgendetwas besaßen. Sie haben uns Glauben und Vertrauen geschenkt.“

Eine Überdosis Tabletten

Mit der Zeit aber veränderte sich Stefan. „Er sagte plötzlich, dass ich etwas Besseres verdienen würde als ihn, dass er mir nicht gut täte, mich runterziehen würden.“ Wichtige Medikamente, die ihm halfen im psychischen Gleichgewicht zu bleiben, nahm er nicht mehr. „Er bestahl mich, kaufte mit meinem Geld Alkohol. Ich erkannte diesen Menschen, der mir immer Kraft gegeben hat, nicht wieder. Ich wollte ihn zur Rede stellen, aber das Gespräch eskalierte.“ Ein großer Streit vor dem Gebäude des SKM entbrach. Der letzte Augenblick, in dem Sarah Stefan sah.

„Am nächsten Tag irrte ich ziellos durch Paderborn. Versuchte Stefan zu finden. Ging alle Ecken ab, an denen wir uns für gewöhnlich aufhielten. Aber ich fand ihn nicht …“, sagt Sarah mit Tränen in den Augen. Es sollte noch einen ganzen Tag dauern, bis Polizisten sie in einem Park ansprachen. „Sie brauchten gar nicht viel sagen. Sie hatten Stefan gefunden. Tabletten … eine Überdosis. Von diesem Zeitpunkt an weiß ich nichts mehr. Ich habe drei Wochen lang im Vollrausch verbracht.“

Auf dem Gelände des SKM ist eine kleine Gedänkstätte für Verstorbene von der Straße eingerichtet. "An dieser Stelle ist es immer gepflegt und ordentlich, da sorgen unsere Gäste ganz von alleine für", beschreibt Joachim Veenhof. Foto: Lena Jordan

Hilfe in der dunkelsten Stunde

Sarah verlor jeden Halt, jeden Funken Hoffnung. Diese unsagbar starke Frau, die allen Situationen immer etwas Positives abgewinnen konnte, hatte ihren Anker im Leben verloren. Ein krimineller, tyrannischer Ehemann, der finanzielle Bankrott, Obdachlosigkeit. Nichts hatte sie je so tief fallen lassen wie der Verlust von Stefan.

Sarah griff wieder zu Drogen und Alkohol. Es war ihr egal, wie viel sie nahm. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wahrscheinlich wäre ich den gleichen Weg gegangen wie Stefan, war ebenfalls kurz vor einer Überdosis“, erzählt Sarah mit leiser Stimme. Da traf sie auf einen Mann, der von ihrer Geschichte wusste und sie mit zu sich nahm. Erst am nächsten Morgen hätte sie erkannt, bei wem sie da übernachtet, wer sie aufgenommen habe. „Er sagte ganz deutlich, wenn ich sterben will, solle ich gehen. Das könne ich draußen machen. Er war nicht zimperlich, sagte klar, was er dachte. Und weckte dadurch meinen Trotz.“

Ohne diesen Menschen, sagt Sarah ganz offen, wäre sie heute wahrscheinlich nicht mehr da. Ihre Kraft reichte nicht mehr, um einen Sinn im Leben zu finden. Vielleicht habe irgendeine höhere Macht ihr diesen Mann geschickt, der ihren Lebensmut neu angefacht hat, sie kann es gar nicht genau in Worte fassen.

In den folgenden Wochen kämpfte sie sich durch einen kalten Entzug, den Sarah als „Horror“ beschreibt. „Jede Zelle in mir schrie nach Alkohol und Drogen“, sagt sie. Aber Sarah hat es geschafft. „Auch mithilfe des SKM. Die Menschen dort waren immer für mich da. Sie haben mich nicht aufgegeben, obwohl sie mich in meiner dunkelsten Stunde gesehen hatten. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar.“

„Die Arbeit tut mir nicht nur gut, ich möchte auch versuchen, etwas zurück zu geben. Ich habe meine Kraft immer aus anderen Menschen gezogen. Sie haben mir Liebe, Halt und Glauben gegeben.”

Blick nach vorne gerichtet

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beim SKM begegnen in der täglichen Arbeit die unterschiedlichsten Schicksale. Sie erleben Wendungen zum Positiven wie auch zum Negativen. „Sarah ist dabei ein typisches und doch untypisches Beispiel. Sie hat mit den, wenn ich sie so nennen darf, typischen Problemen zu kämpfen wie viele unserer Gäste im SKM – eine fehlende Ausbildung, fehlender familiärer Rückhalt, Drogenmissbrauch“, verdeutlicht Joachim Veenhof, Geschäftsführer des SKM. „Und doch ist Sarahs Geschichte untypisch. Sie hat einen ungemeinen Willen, hat es trotz aller Rückschläge geschafft sich zurück zu kämpfen und ist auf einem guten Weg in ein selbstbestimmtes, verantwortungsbewusstes Leben.“

Mittlerweile lebt Sarah in einer eigenen Wohnung, kommt jeden Tag zum SKM, arbeitet drei Mal die Woche dort im Sozialen Kaufhaus, das Einkaufsmöglichkeiten für finanziell, sozial und emotional Bedürftige anbietet. „Die Arbeit tut mir nicht nur gut, ich möchte auch versuchen, etwas zurück zu geben. Ich habe meine Kraft immer aus anderen Menschen gezogen. Sie haben mir Liebe, Halt und Glauben gegeben. Nun schaue ich nach vorne, genieße mein Leben und möchte ehrlich gesagt auch ein bisschen vergessen.“ Wertschätzen kann sie nun vor allem die kleinen Dinge im Leben. „Ich genieße es ungemein, auf meinem eigenen Sofa zu sitzen, mit einem Kaffee in der Hand, und nicht frieren zu müssen. Schlafen zu dürfen, wenn ich müde bin. Alltag ist ein wunderschöner Luxus für mich.“

Im Dezember wird Sarah ihre Kinder in München besuchen, die dort auf eigenen Beinen stehen. „Das wird ein kleines Fest“, freut sich Sarah. Sie habe sehr viele liebe Menschen dort, auf die sie sich freue. „Ich bin dankbar, dass mir das Leben eine weitere Möglichkeit geschenkt hat, glücklich zu sein. Manche Menschen verlieren sich auf der Straße, ich habe mich ein Stück weit gefunden.“

*alle Namen geändert

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